J. Auderset: Transatlantischer Föderalismus

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Titel
Transatlantischer Föderalismus. Zur politischen Sprache des Föderalismus im Zeitalter der Revolutionen, 1787–1848


Autor(en)
Auderset, Juri
Reihe
Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit
Erschienen
Berlin 2016: De Gruyter Oldenbourg
Anzahl Seiten
525 S.
von
Nadir Weber

«[W]ords, as is well known, have different meanings in different contexts.» Der auf Seite 261 des zu besprechenden Werks zitierte Satz entstammt nicht etwa einem Methodentext der Conceptual History, sondern den 1839 publizierten Legal and Political Hermeneutics aus der Feder des deutsch-amerikanischen Rechtsphilosophen, Geschichtsprofessors und politischen Publizisten Francis Lieber (1800–1872). Im Kontext der Debatten um das Verhältnis von Gliedstaaten und Zentralregierung in der amerikanischen Verfassung verfocht Lieber die Ansicht, dass man die konstitutionellen Texte zunächst auf den zur Zeit der Abfassung und Ratifikation gemeinten Sinn hin auszulegen habe, bevor man Rückschlüsse auf ihre Bedeutung für die Gegenwart ziehe. Das Beispiel veranschaulicht schön die Selbstreflexivität des transatlantischen Föderalismusdiskurses in der Sattelzeit, der den Gegenstand der an der Universität Freiburg verfassten Dissertation von Juri Auderset darstellt.

Die Studie gliedert sich in eine ausführliche Einleitung, einen zweigeteilten Darstellungsteil und ein abschliessendes Resümee. In Teil A «Semantische Ordnungen» rekonstruiert Auderset in vier Kapiteln das weite semantische Feld assoziativer Staatlichkeit, in das sich das ab den 1790er Jahren auftauchende Konzept des Föderalismus in Nordamerika, Frankreich, Deutschland und der Schweiz einschrieb. In Teil B «Pragmatische Interventionen» rückt der Autor in sieben weiteren Kapiteln das Schreiben und Wirken von ausgewählten «transkulturellen Mediatoren» in den Blick, die als Briefeschreiber und Publizisten für einen stetigen Ideenfluss über den Atlantik hinweg sorgten. Die Kapitel fokussieren jeweils auf einzelne Räume oder Akteure, bauen über Querbezüge aber dennoch aufeinander auf, sodass bei fortschreitender Lektüre ein immer vielschichtigeres Bild des Föderalismusdiskurses von den 1780er bis in die 1840er Jahre entsteht. Dieser lässt sich – dies zeigt die Studie eindrücklich auf – nicht anders denn als transatlantisches Phänomen verstehen.

Was aber ist beziehungsweise war Föderalismus? Der Begriff und die damit zusammenhängenden Adjektive und Parteibezeichnungen blieben – und dies machte wohl gerade ihre Anziehungskraft aus – letztlich so bedeutungsoffen, dass, abgesehen von der Thematisierung einer aus mehr oder weniger autonomen Teilen zusammengesetzten Staatlichkeit, kaum eine allen Wortverwendungen unterliegende Grundbedeutung fassbar wird. Entsprechend nannten sich jenseits des Atlantik just jene Publizisten und Politiker Federalists, die für die Schaffung eines stärkeren Bundesstaats eintraten, während fédéralisme im Frankreich des Jahres 1792 für all das stand, was die neue, «einheitliche und unteilbare» Republik gerade nicht war und niemals sein sollte. Bald schon kam die Bezeichnung einer Person als «Föderalist» hier einem Todesurteil gleich – eine negative Konnotation, die der Begriff in Frankreich auch im 19. Jahrhundert nicht mehr ganz loswurde. In Deutschland drehte sich der Föderalismusdiskurs im frühen 19. Jahrhundert dagegen vor allem um den Dualismus «Staatenbund» versus «Bundesstaat». In der Schweiz kamen schliesslich alle drei Diskursstränge zusammen – mit einer nach dem Verfassungsexperiment der Helvetik aber bald schon deutlich positiven Wertung des Föderalismuskonzepts, das sich mit restaurativen (Bezug auf die Alte Eidgenossenschaft) wie liberalen (Vorbild der amerikanischen Föderativrepublik) Anliegen gleichermassen vertrug.

Die Studien zu den einzelnen «transkulturelle Mediatoren» – unter ihnen auch der in Genf geborene, nach Amerika ausgewanderte Albert Gallatin – können an dieser Stelle nicht im Einzelnen gewürdigt werden. Als sehr gewinnbringend erweist sich hier die Analyse von Korrespondenzen, an denen sich zeigt, dass hinter den diskursiven Übersetzungsprozessen auch ein sehr konkretes Netzwerk von personalen Beziehungen stand, bei dem insbesondere der frühere General im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und französische Revolutionär La Fayette als Broker eine überragende Rolle spielte. Alexis de Tocquevilles oft als einsamer Monolith dastehender Klassiker De la démocratie en Amérique (1835/40) vermag Auderset vor dem Hintergrund eines etablierten transatlantischen Diskussionszusammenhangs überzeugend zu rekontextualisieren. Bisweilen führt die detaillierte Rekonstruktion von Positionen in den amerikanischen Verfassungsdebatten aber auch etwas weit weg von der Föderalismusthematik, und sich im komplexen Geflecht von Namen, Daten und Zitaten zurechtzufinden ist eine Herausforderung für den Leser.
Insgesamt liest sich die umsichtig und elegant argumentierende Studie aber nicht nur empirisch, sondern auch methodisch mit Gewinn. Zwischen Intellectual History und Historischer Semantik angesiedelt, kann das Werk seinerseits als Beitrag zu einem sprachübergreifenden Methodendiskurs verstanden werden. Schliesslich – dies soll hier nicht unerwähnt bleiben – eröffnet die Studie auch neue Perspektiven auf die Genese und Rezeption der Schweizer Bundesverfassung von 1848. Dass diese vom amerikanischen Modell inspiriert worden war, ist zwar bekannt, lässt sich nun aber durch die aufgezeigten Vermittlungsstränge besser nachvollziehen. Dass der eingangs zitierte Francis Lieber diese Verfassung 1851 in einem Beitrag für den Southern Patriot als «Kopie» der amerikanischen Verfassung beschrieb und dass diese Beobachtung zu einem Argument werden konnte, um den Sezessionisten im eigenen Land den Wind aus den Segeln zu nehmen, wirft zudem ein erhellendes Licht auf einen transatlantischen Diskurszusammenhang, in dem politische Konzepte und Argumente nie nur in eine Richtung wanderten und mit jedem Weg neue Bedeutungsinhalte hinzugewannen.

Zitierweise:
Nadir Weber: Rezension zu: Juri Auderset, Transatlantischer Föderalismus. Zur politischen Sprache des Föderalismus im Zeitalter der Revolutionen, 1787–1848, Berlin/Boston: De Gruyter Oldenbourg, 2016. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 2, 2018, S. 395-397.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 2, 2018, S. 395-397.

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